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Erklärung zum Verhalten der katholischen Kirche in der Schweiz zum jüdischen Volk im 2. Weltkriegs und heute
Schweizer Bischofskonferenz
Suíça (2000/08)
14. April 2000
Das Jubeljahr ist nach altem biblischen Verständnis (Lev 25,8-17) ein Jahr der Versöhnung und der Aufarbeitung der Vergangenheit. In diesem Sinne hat Papst Johannes Paul II. für das Jahr 2000 die Kirche zu einer „Reinigung des Gedächtnisses" aufgerufen und ist selbst mit dem Beispiel vorangegangen. Die „Reinigung des Gedächtnisses" meint ein „Eingeständnis der Schuld für alle Leiden und Kränkungen, die die Söhne und Töchter der Kirche in der Vergangenheit anderen zugefügt haben".
Als Schweizer haben wir in den vergangenen Jahren erneut zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Haltung unseres Landes zur Zeit des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkrieges keineswegs so untadelig und heldenhaft war, wie eine verklärende Geschichts- Schreibung nahelegen wollte. Auch die Katholische Kirche in der Schweiz hat ihre Mitschuld zu bekennen, dass vielfach zu wenig für die Rettung des Lebens und der Würde verfolgter Menschen getan wurde. Angst, Unterlassungen, Vorurteile und mangelnde Grossmütigkeit haben die bitter nötige Hilfe besonders den in der Schweiz Einlass suchenden jüdischen Flüchtlingen zu spärlich zukommen lassen.
Indem wir das damals von Katholiken und Katholikinnen und von kirchlichen Verantwortlichen Versäumte anerkennen, müssen wir bereit sein, aus der Geschichte zu lernen, um heute und morgen bei Verhetzungen, Vertreibungen, Verfolgungen und Massenmorden zu Verteidigern, Beschützern und Gastgebern zu werden. Es gilt, heute aus der Vergangenheit Fehler zu erkennen und zu benennen, um sie in Gegenwart und Zukunft zu meiden.
Diese Erklärung erscheint unter der Verantwortung von uns Bischöfen in der Schweiz. Es sind uns aber Vertreter des Judentums der Schweiz, der Theologie und der Judaistik mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihrem Verständnis für die damalige Situation unserer Kirche zur Seite gestanden. Wir danken ihnen.
1. Kurze Zusammenfassung heutiger Forschung
Zur Zeit erscheinen zahlreiche historische, soziologische und theologische Untersuchungen über die Schweiz während der Nazizeit, über die damalige politische und wirtschaftliche Rolle unseres Landes und über die zu jener Zeit verbreiteten Vorurteile gegen Menschen, Gruppen und Völker. Im Dezember 1999 ist der Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission über die Rolle der Schweiz während des zweiten Weltkrieges unter dem Titel „Die Schweiz und Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus" erschienen. Darin wird die Rolle der Regierung der Schweiz, der Beamtenschaft und der Bevölkerung der Schweiz kirchlicher und nichtkirchlicher Prägung während der Jahre der Hitlerdiktatur dargestellt. Auch die Rolle der Kirchen und des schweizerischen Judentums wird dargestellt. Neben dem Bergier-Bericht sind in letzter Zeit eine Reihe von dokumentarischen Publikationen erschienen, die das Verhalten der Katholiken und anderer christlicher Konfessionen analysieren. Der Bericht der Volcker-Kommission über die finanziellen Verflechtungen der Schweiz in der Nazizeit hat auf finanzpolitische Strategien der Schweiz hingewiesen. Beachtenswert ist auch der Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), der im November 1998 unter dem Titel „Antisemitismus in der Schweiz" erschienen ist. Auch er weist Formen der Voreingenommenheit gegen das jüdische Volk in der Schweiz nach, die in der nationalsozialistischen Zeit und bis in die Gegenwart hinein in unserem Land verbreitet waren und sind. Dass die kirchlichen Behörden (z.B. die Nuntiatur in Bern) während des Krieges (ab 1942) auf die sich anbahnende Vernichtung des jüdischen Volkes hingewiesen worden sind, zeigen etwa das Buch des ehemaligen Generalsekretärs des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart M. Riegner sowie die Publikationen eines amerikanischen Erforschers der Rolle der Schweiz während des 2. Weltkrieges. Weitere Klärungen, besonders bezüglich der Stellung der katholischen Kirche, werden die in Auftrag gegebenen Studien zu „Der Schweizerische Katholizismus im Zeitalter der Totalitarismen (1920-1950)" bringen.
Die Schweizer Bischöfe haben in Erklärungen und Hirtenschreiben im Verlauf der letzten vierzig Jahre mehrmals auf Gefahren des Antisemitismus in Predigt und Religionsunterricht aufmerksam gemacht. Wir erinnern etwa an die Erklärung „Antisemitismus: Sünde gegen Gott und die Menschlichkeit", die die Schweizer Bischofskonferenz gemeinsam mit der Leitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes im Jahre 1992, 500 Jahre nach der Vertreibung der Juden aus Spanien, veröffentlicht hat. Wir möchten auch erneut auf die Erklärungen der Synode 72 der Schweizer Katholiken über das Verhältnis der Kirche und der Gläubigen zum jüdischen Volk hinweisen.
In den Jahren des Nationalsozialismus ragen einzelne, leider zu seltene, mutige Worte von Bischöfen und führenden Gestalten des Schweizer Katholizismus heraus. Alois Scheiwiler, Bischof von St. Gallen, erliess 1935 eine Botschaft gegen Rassismus und Antisemitismus. Darin heisst es, „dass wir je und je unsere Stimme erheben müssen gegen die Verfolgung irgend eines Volkes und vorab der Juden, nicht bloss im Namen der Menschlichkeit und insbesondere der Nächstenliebe, die jede Art von Rassenwahn und von Kränkung des Nebenmenschen verurteilt, sondern auch um der tiefen heilsgeschichtlichen Wurzeln und Zusammenhänge willen, die zwischen Judentum und Christentum bestehen." Der Freiburger Theologieprofessor am Priesterseminar, der nachmalige Kardinal Charles Journet wandte sich vor dem 2. Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus, den er als „heidnischen Totalitarismus" bezeichnete. Er wehrte sich gegen die vom Bundesrat am 8. September 1940 verfügte Pressezensur. Er benützte die von ihm (anfänglich mit dem späteren Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, François Charrière) herausgegebene Zeitschrift „Nova et Vetera", um auf die von Seiten des Nazismus drohenden Gefahren aufmerksam zu machen. Auch der 1900 - 1912 und 1921 - 1951 an der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg lehrende katholische Priester Dr. Max Prinz zu Sachsen sprach sich mehrmals deutlich gegen Rassenvorurteile im Zusammenhang mit dem aufkommenden Nazismus aus . Es gab damals aber nicht nur Worte! Verschiedene Seelsorger, christliche Familien und Bildungsinstitutionen haben während des Krieges Flüchtlinge - Kinder und Erwachsene, Juden und Nichtjuden aufgenommen und dadurch gerettet. Noch heute trifft man immer wieder dankbare Jüdinnen und Juden.
2. Versäumnisse in der Schweiz
Manche Lichtpunkte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass während des 2. Weltkrieges leider zu wenig getan wurde, um jüdische und andere Flüchtlinge vor Verfemung, Verfolgung und Ermordung zu schützen. Es schmerzt uns Heutige, dass auch die katholische Kirche in der Schweiz in jenen Jahren bezüglich der konkreten Hilfeleistung in zu grosser Passivität, Selbstbezogenheit und Ängstlichkeit verharrte. Wer jene Zeit noch miterlebt hat, weiss zwar, wie sehr das öffentliche schriftliche Wort, nicht zuletzt durch die Zensur, eingeschränkt war und dass folglich der geistige Widerstand gegen den Nationalsozialismus wesentlich militanter war als sich heute aus den Quellen erschliessen lässt. Dennoch müssen wir Bischöfe es bedauern, dass bei den vielfältigen Verurteilungen des Nationalsozialismus und seiner Kirchenverfolgung in Predigt und Katechese die Untaten gegenüber dem jüdischen Volk und anderen Menschengruppen fast nie zur Sprache kamen. Wenn, selten genug, die Rassenideologie angeprangert wurde, galt die Verurteilung mehr dem Anspruch der „Herrenrasse" als ihren zerstörerischen Folgen für die „minderwertigen" Menschen. Und doch ist es ein Grundpfeiler in der Lehre der Heiligen Schrift, dass jeder Mensch ohne Ausnahme ein Ebenbild Gottes ist (Gen r,z6-27), und dass daher alle Menschen an Würde gleich sind. Während dieser Zeit gab es auch keine Zurücknahmen antijüdischer Texte aus der Liturgie. In der Karfreitagsliturgie wurde während der ganzen Zeit des Nationalsozialistischen Ungeistes betend von den „perfidi Judaei" gesprochen, was fast allgemein als „treulose Juden" missverstanden wurde. Das Wort bezeichnete ursprünglich nur den Umstand, dass die Juden Jesus nicht als Messias anerkannten. Weder Theologen noch christliche Publizisten, weder Religionslehrer noch Vertreter der Kirchenleitung haben sich in dieser Zeit entschieden gegen den religiösen Antijudaismus gewandt und erst recht nicht den schleichenden, aus verschiedenen Quellen gespeisten Antisemitismus im Schweizervolk verurteilt. So kam eine Stimmung zustande, die in der allgemeinen Abwehrhaltung der damaligen Schweiz auch die Abwehr von Flüchtlingen an der Schweizer Grenze zumindest als notwendiges Übel hinnahmen. Ein uns besonders nahestehendes Opfer dieser Abwehrhaltung war Edith Stein. Weil sich ihre Einreiseerlaubnis in die Schweiz bürokratisch verzögerte, wurde sie nach Auschwitz deportiert.
Wir rufen alle gläubigen Katholiken auf, sich dieser negativen Bilanz unserer jüngsten Kirchengeschichte zu stellen. Das soll nicht zu Besserwisserei und Vorwürfen gegenüber unseren Vorgängern führen, sondern uns helfen, dass wir uns für die Gegenwart und Zukunft gegen ähnliche Fehlhaltungen wappnen.
3. Rassismus, Antisemitismus und die Verbrechen gegen das jüdische Volk
Man bezeichnet die Verbrechen des Nationalsozialismus oft mit den Begriffen Schoa (wörtlich Vernichtung) und Holocaust (wörtlich Ganzopfer; dieser Begriff aus der biblisch-liturgischen Sprache ist nur teilweise zur Charakterisierung der am jüdischen Volk verübten Verbrechen geeignet). Damit sind in erster Linie Verachtung, Entrechtung, Demütigung und vor allem die Ermordung von sechs Millionen Juden und die geplante vollständige Ausrottung des jüdischen Volkes in Europa gemeint. Das nationalsozialistische Vernichtungsprogramm schloss auch die Völker der Sinti und Roma ein, die vielerorts wie die Juden umgebracht wurden. Zu erwähnen sind auch die reihenweise Ermordung von Geisteskranken und Behinderten sowie die Zwangssterilisationen, die alle auf das Konto der gleichen Rassenideologie gehen, die zwischen wertvollem und minderwertigem Leben unterschied. Auch viele weitere Gruppen von Personen, namentlich aus den Völkern des slawisch sprechenden Europa, wurden besonders grausam und entwürdigend behandelt und massakriert, weil man sie als Menschen minderen Wertes ansah. Auch politische und weltanschauliche Gegner des Naziregimes wurden ihrer elementaren Rechte beraubt und in Konzentrationslager verschleppt und aufs brutalste um ihr Leben gebracht. Nichtjüdische Verteidiger der Rechte der Juden entgingen ihrem tödlichen Schicksal ebenfalls nicht. Wir erinnern auch daran, dass in den Nazikonzentrationslagern zusammen mit sehr vielen andern Gefangenen auch mehr als 3000 christliche Geistliche gefangen, gequält und ermordet worden sind . Sie stammten besonders aus Polen, Deutschland, Frankreich und den Balkanländern. Wir Bischöfe gedenken zusammen mit der christlichen und der nichtchristlichen Öffentlichkeit in der Schweiz der sechs Millionen jüdischer Ermordeten, aber auch der christlichen und aller während der Nazizeit Terrorisierten. Wir gedenken auch der vielen vom stalinistischen Terrorregime Umgebrachten, Deportierten und Vertriebenen.
Wir betrachten diese fürchterlichen Verbrechen aus der Distanz von über fünfzig Jahren. Das kann aber nicht bedeuten, dass sie uns gleichgültig lassen, so wenig wie die seither in vielen Ländern aus rassistischen Vorurteilen oder im Namen anderer ideologischer Verblendungen verübten zahlreichen Massaker und Morde an Einzelnen oder ganzen Volksgruppen uns gleichgültig lassen. Wir dürfen im Kampf gegen das Unrecht nie auswahlweise verfahren und offene Augen nur für das eine Unrecht haben, während wir am andern blind und teilnahmslos vorübergehen.
Sorge bereitet uns ein derzeit wieder auflebender spezieller Antisemitismus, für den etwa die sogenannten „Protokolle der Weisen vom Zion" typisch sind. Seit langem sind sie als eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Fälschung entlarvt. Darin werden dem jüdischen Volk Weltherrschaftspläne mit Hilfe finanzpolitischer Machtergreifung sowie Verschwörung gegen das Christentum unterschoben. Für die nationalsozialistischen Ideologen waren die „Protokolle" ein willkommenes Machwerk, um das jüdische Volk als Ganzes zu verleumden. Im Zusammenhang mit den zur Zeit erhobenen Forderungen an die Schweiz auf Rückerstattung gestohlenen jüdischen Eigentums ist erneut Bezug auf die judenfeindlichen Klischees der „Protokolle" genommen worden. Aus christlicher Verpflichtung und aufgrund der geschichtlichen Erfahrung dieses Jahrhunderts warnen wir vor Pauschalurteilen und vor allen Formen der offenen und versteckten Polemik gegen das jüdische Volk. Unsere Warnung gilt auch im Blick auf Reaktionen auf Rückgabe- und Entschädigungsforderungen jüdischer Organisationen an staatliche und private Institutionen der Schweiz. Die Neigung, Unrecht und Profitstreben von Schweizern während des Zweiten . Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zu verharmlosen, geht einher mit der Beschuldigung, die Juden wollten sich an der Schweiz bereichern. Wir begrüssen es, dass die Rolle unseres Landes und unserer Bevölkerung während des 2. Weltkriegs ehrlich und detailliert untersucht wird. Erinnerung an das Geschehene und Übernahme von Verantwortung für das den Opfern der Schoa und ihren Angehörigen durch unsere Mitbürger geschehene Unrecht ist eine nachzuholende Pflicht der Gerechtigkeit und unseres Glaubens an den einen Gott, der alle Menschen in gleicher Weise liebt. Die Kirche ist nicht nur eine Gemeinschaft in der Gegenwart, sie umschliesst auch die Generationen der Vergangenheit und der Zukunft. Durch die Forderungen nach Rückgabe unrecht erworbener jüdischer Vermögenswerte und durch den Nachdruck, in dem sie teilweise vorgebracht wurden, ist die Gefahr neuer negativer Verallgemeinerungen gewachsen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Klima in der Schweiz nicht vergiftet wird. Wir fordern alle auf, die mit Predigt, Religionsunterricht, Geschichte und Lehre betraut sind, sich aller demagogischen antijüdischen Äusserungen und Anschuldigungen zu enthalten.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die christliche Einstellung dem jüdischen Volk gegenüber positiv verändert. Zusammen mit der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz sind wir dafür dankbar. Kaum versteigt sich noch jemand zur abwegigen Behauptung, die Juden würden bestraft, weil sie vor 2000 Jahren Christus gekreuzigt hätten. Es gilt wachsam zu sein, damit diese folgenschwere Anklage auch in Zukunft nie mehr verbreitet wird. Jesus wurde in letzter Verantwortung vom höchsten heidnisch-römischen Verwaltungsbeamten in der römischen Provinz Judaea, der für Todesurteile allein zuständig war, zum Kreuzestod verurteilt. „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben“ schreibt das II. Vatikanischen Konzil, „kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen" . Wenn von Mitschuld die Rede sein soll, wären nicht zuletzt auch der Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus und die Flucht der Apostel zu erwähnen. Vor allem aber ist das zu bedenken, was die Kirche seit dem zweiten Jahrhundert und auch jetzt wieder im Zweiten Eucharistischen Hochgebet betet: dass Jesus „sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf` (morti voluntarie traderetur).
4. Kirche und Judentum
Wir müssen uns das richtige Verhältnis des Christentums zum Judentum immer wieder vergegenwärtigen. Deshalb nehmen wir diese Erklärung zum Anlass, nochmals die christliche Auffassung von Erwählung und Auftrag des jüdischen Volkes darzulegen. Eine solide theologische Fundierung dieser Lehre ist wichtig.
Unbestritten und unbestreitbar ist vor allem, dass Jesus selbst, Maria und Josef und alle Apostel aus dem Judentum hervorgingen, im jüdischen Glauben ihre Wurzeln und ihr religiöses Umfeld hatten und dass sie aus diesem Glauben lebten. Die Evangelien und die übrigen Schriften des Neuen Testaments sind deshalb ohne jene des Alten Testaments schlechthin nicht zu verstehen. Darum lässt die Kirche seit der Neuordnung der Liturgie an jedem Sonntag zuerst einen Abschnitt aus dem Alten Testament vorlesen - eine sinnvolle Anordnung, die in unseren Pfarreien mehr Beachtung finden müsste.
Zudem ist spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die katholische Lehre in unser Bewusstsein gedrungen, dass das jüdische Volk für sich selbst und für die Menschheit das Volk des Bundes Gottes ist. Dieser Bund Gottes mit Israel wurde nie gekündigt. Seit alter Zeit bis heute sprechen Juden/ Jüdinnen beim Erscheinen des Regenbogens folgenden Lobpreis Gottes: „Gelobt sei Er, der des Bundes gedenkt, der zuverlässig in Seinem Bund und beständig in Seinem Wort ist". Als Christen schliessen wir uns diesem Lobpreis Gottes an und glauben, dass die Kirche mit diesem Bundesvolk gnadenhaft verschwistert ist und so auch selbst durch Christus in den Bund hineingenommen worden ist. Sie verkündet diesen Bund und steht selbst im Bund mit Gott, wenn sie im innersten Geheimnis und Vollzug ihres Lebens, in der heiligen Eucharistie, im Wort Jesu ihres Herrn über den Kelch alle Tage bis ans Ende der Welt verkündet: „Dies ist der Kelch meines Blutes, des Bundes“ (Mk 14,24 par). Der Evangelist Lukas und der Apostel Paulus führen dieses Kelchwort Jesu aus der liturgischen Tradition ihrer Kirchen wie folgt an: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ (Lk 22,2o; I. Kor 11,25). In diesem Bund Gottes steht die Kirche. Jesus Christus hat ihn in seinem Tod am Kreuz geschlossen, und diesen Bund erneuert er durch seine geistgewirkte Gegenwart in jeder eucharistischen Liturgie. Zwischen dem Bund Gottes mit seinem Volk Israel und dem Bund Gottes mit der Kirche und damit mit den „Völkern der Welt“ besteht ein innerer Zusammenhang (vgl. Röm 9-11). Der Bund Gottes in Jesu Blut setzt den Bund Gottes mit Israel voraus und verleiht ihm eine besondere Ausprägung. Wenn die Kirche von dem Bund Gottes mit ihr spricht, spricht sie gleichzeitig von seinem Bund mit Israel. Ohne den ersten Bund mit Israel gibt es keinen neuen. Der Bund Gottes mit Israel ist im Neuen Testament nicht abgeschafft worden. Er wurde aufgegriffen, neu gefüllt und erweitert. Der Begriff „neuer Bund" findet sich bereits beim Propheten Jeremia, Kapitel 31. Am Ende der Zeiten werden sich beide Bünde als ein Bund der Gnade und Barmherzigkeit Gottes erweisen.
Ungekündigter Bund und ungekündigte Erwählung Israels gehören zum zentralen Glaubens- und Existenzbewusstsein des jüdischen Volkes. Sie stehen mit der dem jüdischen Volk auferlegten Verantwortung für das Zeugnis von Gott vor den „Völkern der Welt“ in Zusammenhang. Den Völkern wird bereits in der Bibel die Hoffnung auf Anteilnahme am Bund Gottes mit Israel verheissen (Jes 49,6; Sach 9,9; vgl. Jes 19,19-25). Die Stimme Gottes, die das Volk Israel am Sinai vernommen hatte, erscholl gemäss einer alten jüdischen Tradition in 70 Sprachen, um alle Völker der Welt zu erreichen. Jedes Volk und jeder Mensch ist geliebtes Eigentum und Partner des Schöpfers. Ebenso gilt das Gebot, Recht und Gerechtigkeit zu üben für alle Menschen. Alle Völker und Sprachen besonders die Kirche - sind aufgerufen, den Bund Gottes mit seinem jüdischen Volk anzuerkennen.
Bund und Erwählung sind auch die Grundlage der Kirche, der christlichen Existenz und des christlichen Dienstes. Gott redet die Menschen durch Christus und durch die Bibel an und führt sie auf seinem Weg. Das ist im biblischen Sinne der Ausgang und Kern aller Gottesbeziehung. Der Bund der Erwählung Israels und seine Verheissungen begründen nach christlicher Glaubensüberzeugung den Bund Gottes in Jesus Christus, der den Gott Israels auf Erden vertritt. Er begründet die Erwählung der Jüdin Maria, der Mutter Jesu sowie der aus dem jüdischen Volk stammenden Apostel und Christen. Der auferstandene Christus hat diese gesandt, die Menschen aus allen Völkern in den Bund und in die Erwählung Gottes zu rufen (Mt 28,rG-ao). Dabei bleibt Israel, wie der Apostel Paulus ausdrücklich festhält, die Wurzel, aus der die Kirche herauswächst, ohne die Wurzel je abzustossen, bis zur vollen Erlösung und Gottesgemeinschaft aller, der Juden und der Völker (Röm 9-11; I Kor 15,20-28; Eph 2,12; Apk 11; 21-22).
Die Juden teilen diese Sicht des christlichen Glaubens nicht. Aus bitteren Erfahrungen im Verlaufe der Geschichte entstand überdies bei nicht wenigen Jüdinnen und Juden die Auffassung, dass das Christentum von Natur aus gegen das Judentum feindlich bzw. antisemitisch eingestellt sei. Trotzdem ist in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ein fruchtbarer und weitverzweigter jüdisch-christlicher Dialog in Gang gekommen, der zu grosser Hoffnung berechtigt und far den wir dankbar sind. Im Glauben wissen wir, dass die Kirche durch Jesus Christus aus Gnade in einen Bund und eine Erwählung eintreten durfte, die auf Bund und Erwählung Israels aufruhen und davon unabtrennbar sind. So ist die Kirche nach einem Bild des Epheserbriefes in das „Bürgerrecht" der Erwählten und in die „Hausgemeinschaft" Gottes eingegliedert worden (Eph z,r9). Paulus bricht daher in den Jubel aus: „Freut euch, ihr Völker, gemeinsam mit seinem Volk" (Röm t5,to, zitiert aus Dtn 32,43). Es ist bemerkenswert, wie hier Altes und Neues Testament zusammenklingen. Wir rufen die Gläubigen auf, diesen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Israel und Kirche mit uns in Gebet und Reflexion lebendig zu bewahren und auch in der Liturgie durch eine sorgfältige Wahrnehmung der alttestamentlichen Lesungen zum Ausdruck zu bringen.
5. Folgerungen
1. Dankbarkeit schauen wir auf die Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück. Dieses Dokument erweist sich immer mehr als bahnbrechend. Es stiess die Tür zu einem neuen Zeitalter in der christlichen Geschichte auf, in dem das jüdische Volk als mit uns verwandtes Gottesvolk gesehen wird. In dieser Erklärung heisst es: „Da also das Christen und Juden gemeinsame Erbe so reich ist, will die heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studie sowie des brüderlichen Gesprächs ist". Auch Papst Johannes Paul II. wird von jüdischer Seite als Reformpapst in Bezug auf das Verhältnis des Christentums zum Judentum angesehen. Wir fordern die Gläubigen auf, Worte und Taten des Papstes in ihrer Bedeutung zu ermessen und entsprechend bereitwillig auf sie zu hören. Er hält die Schoa für das bedeutsamste Warnzeichen gegen ein veroberflächlichtes, vor dem Bösen feige verstummendes Christentum.
2.Papst Johannes Paul II. hat am 3r. Oktober 1997 eindringlich erklärt, es sei „wichtig für Kirche und Welt“, die Schoa selbst und die Mitverantwortung und Mitschuld auch der katholischen Kirche an ihr im Gedächtnis zu bewahren, weil das „eine Warnung, ein Zeugnis und ein stiller Schrei für die ganze Menschheit" ist . Auch in diesen Tagen hat Johannes Paul II. zur Busse aufgerufen und eine Verzeihungsbitte wegen vergangenen judenfeindlichen Einstellungen ausgesprochen. Wir schliessen uns seiner Haltung und seiner Fürbitte an.
3.Das ungeheuerliche Böse, das sich in der Schoa offenbarte, muss eine fortdauernde Gegenreaktion auslösen. Die Theologie ist beauftragt, eine Lehre von der Erwählung und dem Auftrag des jüdischen Volkes zu entfalten, die die Verachtung oder gar Verfolgung der Juden unmissverständlich als falsch und sündhaft erklärt. Diese Theologie muss sich im Religionsunterricht, in Verkündigung und Publizistik niederschlagen. Das unterscheidend Christliche, die im Neuen Testament enthaltene Offenbarung darf nicht gegen die dem jüdischen Volk von Gott verliehene Stellung ausgespielt werden.
4.Die schrecklichsten Verbrechen haben zuerst im Herzen begonnen. Hier liegt der Keim des Bösen. „Wehret den Anfängen“ bedeutet in diesem Zusammenhang: wehret den Gedanken des Hasses und den Ressentiments in eurem Innern! Die Judenvernichtung war schon am Ende des 19. Jahrhunderts als Gedankenexperiment in rassistischen Kreisen durchgespielt worden. Aus dieser Gedankensaat wuchs das Verbrechen selbst heran und fand seine Realisierung in den Taten der Nazis. Unser Wissen soll zum Gewissen werden. Wir müssen unser Gewissen von allen Gedanken des Fremden- und Judenhasses reinigen und freihalten, damit aus solchen geheimen Aggressionen niemals mehr verbrecherische Taten herauswachsen. Das Herz von Verachtungs- und Vernichtungswünschen rein zu halten, ist ein erstrangiges Gebot Gottes.
5.Wir müssen der rassistischen und allen andern Formen von Menschenverachtung überall entgegentreten, wo immer sie auftreten. Wer nur eine Sorte von Unrecht sieht und sich um andere nicht schert, der hat das Recht auf Protest verloren, da es ihm ja nicht prinzipiell um den Kampf gegen das Unrecht geht. Als Christen und Christinnen müssen wir uns unbedingt dafür einsetzen, dass das jüdische Volk nie wieder verachtet, verfolgt und in eine Schoa getrieben wird. Aber wir dürfen nicht nur beim damaligen furchtbaren Unrecht stehen bleiben; wir müssen allen Vernichtungsplänen, wo immer sie um der Rasse oder auch der Religion willen drohen, entgegentreten. In diesem Zusammenhang sind auch alle Formen von Schändungen jüdischer Gräber und das Beschmieren von Wänden mit judenfeindlichen Parolen zu verurteilen und als Sünde zu bezeichnen.
6.Nach der verpflichtenden Lehre Christi dürfen wir nie an der Not von Mitmenschen vorübergehen, gerade dann nicht, wenn ein von Räubern Überfallener und schwer Verwundeter am Weg liegt, der einer andern Religion oder Volksgruppe zugehört. Jesus hat dies im Gleichnis vom barmherzigen Samaritan unmissverständlich dargelegt (Lk 10,25-37). Wenn wir einen Menschen leiden sehen, dürfen wir nicht an ihm vorübergehen, so fremd er uns auch erscheint. Der Glaube und die Feier unseres Glaubens im Gottesdienst helfen uns, die Augen für das Leiden in der Welt zu öffnen.
Freiburg, 14. April 2000
Die Schweizer Bischofskonferen
Diese Erklärung wurde von der Schweizer Bischofskonferenz an ihrer 247. Ordentlichen Versammlung (6. - 8. März 2000) verabschiedet und die Veröffentlichung auf den 14. April 2000 festgelegt.
Amédée Grab OSB, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz
P. Dr. Roland-B. Trauffer OR Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz